Die gegenwärtig fortschreitende Lockerung der religiösen Bindungen und die gleichwertigere Behandlung unterschiedlicher Kulturen haben eine traditionelle Einflussnahme gegenüber Sexualität abgeschwächt. Zum Beispiel erlaubt die offizielle katholische Kirche Geschlechtsverkehr innerhalb der Ehe und natürliche Verhütungsmethoden. Im Unterschied dazu macht die reformierte Kirche keine konkreten Vorgaben, sondern weist darauf hin, dass jeder Mensch in seiner Sexualität für das Gegenüber verantwortlich ist. Glaubensgemeinschaften wie das Judentum, der Islam, der Hinduismus und der Buddhismus sind in anderen kulturellen Kontexten entstanden und transportieren andere Ansichten über Beziehung und Sexualität. Religiöse Traditionen und kulturelle Vorstellungen prägen männliche und weibliche Rollenbilder sowie das zugehörige Denken und das sexuelle Verhalten. Solche tradierten Vorstellungen geben einerseits eine Orientierung, die für die Identität und das Zugehörigkeitsgefühl zur Familie, zu einer national-ethischen Gruppe oder einer Religion bedeutsam ist. Andererseits können sie einengen, weil diese tradierten Vorstellungen individuelle Aspekte, die Auseinandersetzung mit aktuellen Strömungen oder eine neue kulturelle Umgebung häufig ausser Acht lassen. Sich von einer tradierten kulturellen Überzeugung zu lösen und diese in Frage zu stellen, kann die Identität, die Zugehörigkeit sowie den sozialen Status eines Jugendlichen bedrohen. Das erklärt das starke Festhalten an solchen Vorstellungen.
In einer pluralistischen Gesellschaft begegnen sich Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen und kulturellen Prägungen. Wenn Menschen unreflektiert starre Normen vertreten, fällt es ihnen schwer, sich in andere Positionen hineinzudenken. Das erschwert die Integration eines Individuums in ein neues Milieu und kann mehr oder weniger hinderlich sein.
Für ein friedliches Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen sind gegenseitiges Verständnis und ein Dialog über verschiedene Werte und Normen elementar. Dabei sind auch die gelebten sexuellen Normen Teil der Aushandlung. Die von den Menschenrechten abgeleiteten sexuellen Rechte bilden heute eine wichtige Grundlage gegen jegliche Formen von Diskriminierung.
Sexualität und Sprache
Mit Worten können Menschen Wünsche und Bedürfnisse formulieren, sie können neugierig machen, sich mitteilen, sich abgrenzen und unterschiedliche Meinungen verhandeln. Worte können wie Schlüssel zu verschlossenen Räumen sein. Wenn etwas nicht passt, kann eine Person sich mit energischen Worten schützen. Sich treffend und passend auszudrücken, ist eine grosse Hilfe, um zu einer einvernehmlichen und als stimmig erlebten Sexualität zu finden.
Das Sprechen über Sexualität kann bei Schüler*innen aufgrund der familiären Prägung oder persönlicher Erlebnisse mit Scham und Ablehnung einhergehen. Dennoch sind offene, respektvolle und informative Gespräche erfahrungsgemäss möglich, wenn spezifische Gesprächs- und Verhaltensregeln zum Thema Sexualität vereinbart und umgesetzt werden. Wichtig ist die Herstellung einer sicheren Atmosphäre in der Gruppe, um Vertrauen zu schaffen und den Jugendlichen und Kindern einen Zugang zu sich selbst und ihrem Gegenüber zu ermöglichen. Über peinliche Ausdrücke, sexualisierte Schimpfwörter oder unverständliche Fachausdrücke reden zu können, wirkt befreiend. Wenn Kinder und Jugendliche gelernt haben, über Sexualität zu sprechen und sexualitätsbezogene Begriffe kennen, ist die Hürde deutlich niedriger, sich im Fall von Übergriffen einer Person anzuvertrauen. Sprache schafft Sichtbarkeit. Eine geschlechtersensible und inklusive Sprache bewirkt, dass sich alle Personen, unabhängig von der persönlichen Geschlechtsidentität, angesprochen fühlen.
Hinweise für den Unterricht
- Achten Sie darauf, dass in der Klasse eine Sprache benutzt wird, mit der sich alle wohl fühlen können. Sie erreichen das, indem Sie gemeinsam den Wortschatz besprechen und diesen mit der Klasse festlegen. Der Wortschatz bildet die Grundlage, um über heikle und tabuisierte Themen und Fragen ins Gespräch zu kommen.
- Erklären Sie Begriffe konkret, knapp und altersgemäss oder lassen Sie die Begriffe von den Schüler*innen erklären. Berücksichtigen Sie dabei das Empfinden der Kinder und Jugendlichen.
- Weisen Sie bei sexuellen Praktiken darauf hin, dass es sich um Facetten von Erwachsenensexualität handelt.
- Beschäftigen Sie sich mit den Bedeutungen von Worten (was ist zum Beispiel mit Vagina oder Klitoris anatomisch gemeint). Vermitteln Sie korrekte Begriffe.
- Fragen zu Sexualität können (zum Beispiel aus Scham) auch indirekt gestellt werden. Versuchen Sie mit Rückfragen den Sinn einer Frage zu erkennen. So vermeiden Sie Missverständnisse.
- Respektieren Sie, wenn Schüler*innen nicht über sexuelle Inhalte reden möchten. Besprechen Sie, wie sie sich vor persönlichen und intimen Fragen – auch Ihnen gegenüber – schützen können.