Grundsätzlich
Die geflüchteten Kinder und Jugendlichen sind einerseits sehr ähnlich zu den integrierten, vor Ort lebenden Gleichaltrigen mit je ihrem Bedürfnis nach:
- Schutz und Sicherheit
- Anerkennung und Wertschätzung
- Nähe (inkl. Vernetzung über social media) und Abgrenzung
- Möglichkeit zur Entwicklung, Förderung, Kreativität (musisch, sportlich)
Andererseits unterscheiden sie sich von den hiesigen Kindern / Jugendlichen und von den anderen Flüchtlingen / Vertriebenen z.T. markant durch:
- Verschiedene Herkunftsländer (Unterschied in Religionen / Konfession / Ritus, Kultur, Sprache, Schrift)
- Erziehungsstil
- Bildungsniveau
- Soziale Schicht in der Heimat (Reichtum, Wohlstand, Armut)
- Allenfalls Verlust durch Tod von Angehörigen / Freunden
- Zurücklassen von persönlichem Besitz, Hobbies
- Allenfalls zusätzliche traumatisierende Erlebnisse in der Heimat / auf der Flucht
Grundsätzlich
Geflüchtete Kinder / Jugendliche kämpfen (oder resignieren) mit grossen Schwierigkeiten im Migrationsland, in der Unterkunft oder jetzt in Schule vor Ort:
-
Fremdsein
-
Ablehnung oder übersteigertes Interesse am Kriegsgebiet / an Flucht
-
Sprachlosigkeit (als Traumafolgestörung / fremde Sprache)
-
Unsicherheit wegen verlorenen / vermissten oder entführten / zurückgelassenen Angehörigen
-
Traumabedingte Schlafstörungen, Irritierbarkeit, Erregbarkeit, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit
-
Körperliche Schmerzen
-
Angst (auch vor Diskriminierung, Rassismus, Abschiebung)
Beachten
Auch die ungewohnten veränderten Lebensverhältnisse in der Gemeinschaftsunterkunft / Asylheim sind zusätzlich belastend:
-
Zum Teil von Familienmitgliedern getrennt oder ganz ohne Familienmitglieder (als Einzige/r geflüchtet)
-
Enger Raum, kaum Privatsphäre, anderes Essen
-
Diebstahl
-
Nicht alters- / geschlechtergerechter Umgang
-
Kaum Freizeitangebote, vorerst keine Beschulung
-
Mit verschiedenen Nationalitäten unter einem Dach (Rivalitäten)
-
Allenfalls Bedrängung durch radikalisierende Mitbewohnende,
Drogendealende (Verdacht auf Sucht), Zwangsprostitution -
Bedrohung
-
Sexuelle Grenzverletzung
-
Unverständnis der Betreuungspersonen
-
Unfaire oder unwirsche Behandlung durch die Security
Hintergrundwissen
- Die vielfältigen Symptome, die infolge von Krieg und Vertreibung bei Kindern / Jugendlichen auftreten, sind als Versuch der Psyche zu sehen, die allenfalls traumatisierenden Erfahrungen zu bewältigen
- Die begleitenden Symptome sind mit enormem Leid, intensiver Unsicherheit, Hilflosigkeit und Angst verknüpft
- Diese Symptome können sich im Laufe der Zeit chronifizieren
- Wie intensiv und welcher Art die Reaktionen von Kindern / Jugendlichen sind, hängt von der Entwicklungsphase, dem Geschlecht, dem Ausmass und der Art der Kriegserlebnisse, den individuellen Bewältigungsstrategien, der Familiendynamik, aber auch mit dem Aufenthaltsstatus im Migrationsland / Exil zusammen
- Dabei können die Erfahrungen im Exilland die Kriegserfahrungen des Ausgeliefertseins immer wieder neu reproduzieren und bei Kindern / Jugendlichen zu einer Art «Opferidentität» führen
- Vor allem im Zusammenhang mit der «Opferidentität » entstehen bei kriegsvertriebenen Kindern / Jugendlichen oft musterartige Verhaltensweisen:
Feindbilder:
- Insbesondere Personen, die als kontrollierend und «verfolgend» wahrgenommen werden – wie Behörden, Lehrpersonen, Sozialarbeitende, können zu Feindbildern werden
- Dies kann aber auch Therapeuten und Lehrpersonen - sowie bei Jugendliche die eigenen Eltern - betreffen
- Dabei werden besonders in der Pubertät die eigenen Eltern mit ihren Normen und Werten als hilflos und schwach erlebt und massiv abgelehnt
Rollenübernahme:
- Kriegsvertriebene Kinder / Jugendliche müssen oft Aufgaben und Verantwortungen übernehmen, die nicht altersgemäss sind
- Dies kann zum Beispiel eine Vermittlerrolle in der Aussenwelt, aber auch die Versorgung der Eltern beinhalten
- Übernehmen Kinder Rollen und Aufgaben auf der Elternebene, bezeichnet man dies als Parentifizierung
Besondere medizinische Erwartungen:
- Vor allem unrealistische Erwartungen auf Grund kultureller Heiltraditionen (z.B. durch Heiler / -innen, Gesundbeter / -innen, weise Frauen in der zurückgelassenen Heimat) führen oft dazu, dass Flüchtlinge für sich und ihre Kinder ein unrealistisch schnelles Verschwinden der Symptome erwarten – ohne eigene Beteiligung im therapeutischen Prozess
Beachten
- Die traumatischen Erfahrungen von Krieg und Vertreibung für Kinder und Jugendliche haben weitreichende Folgen für die emotionale, kognitive und soziale Entwicklung
- Dies zeigt sich beispielsweise in Form von emotionalen Störungen, wie Depressionen und Angststörungen, Drogenmissbrauch oder Störungen des Sozialverhaltens
- Ebenfalls häufig sind Leistungsversagen und Schulabbruch, frühe ungewollte Schwangerschaften oder Gesetzesübertretungen und Straftaten
- Da oft die Eltern dieser Kinder / Jugendlichen selbst durch eigene Traumatisierungen beeinträchtigt und verunsichert sind, sind sie keine Ressourcen für eine positiver Veränderung
- Die Verhaltensauffälligkeiten der eigenen Kinder /Jugendlichen werden als schamhafte Kränkung erlebt
- Das bedeutet eine erneute Stigmatisierung
- Auf Grund der Schwierigkeiten droht allenfalls die Abschiebung
- Auffälligkeiten der Kinder /Jugendliche werden somit geleugnet
- Auf Grund der vorherrschenden existenziellen Probleme werden diese als unbedeutend angesehen
- Pädagogisch-therapeutische Angebote werden darum abgelehnt
Von Seiten der Betreuenden braucht es ein bewusstes Verständnis für die spezifischen Schwierigkeiten, in denen geflüchtete / vertriebene Kinder und Jugendliche stecken. Denn die Probleme können sich unterschiedlich äussern:
- Teilnahmslosigkeit, Desinteresse, Apathie
- Aggression, Wutausbrüche, Weinen, Schreien
- Ruhelosigkeit
- Lernverweigerung / Blockade
Wichtig ist das Vermeiden von
- Berührungen > (alles, was die persönliche Schutzzone verletzten könnte)
- Ratschläge
- Mitleid
- Ausfragen > (über Familie in der Heimat, Krieg, Ablauf der Flucht, Gesehenes, Gehörte, Erlebtes)
- Wertungen > (Glaube, Konfession, Kultur, Moral)
Kinder / Jugendliche mit traumatischen Erfahrungen brauchen viel Verständnis, Geduld und Strukturen, welche ihnen Sicherheit geben. LP, SSA ermöglichen ihnen im Schulalltag eine Stabilisierung, wenn es ihnen gelingt, im Blick auf das Verhalten der Kinder / Jugendlichen bereits Kontinuität oder kleinste Fortschritte zu würdigen – immer unter dem Aspekt des Wohlwollens, dass diese Schüler verletzlicher sind als andere.
Grundsätzlich
Es helfen vorurteilslose Zuwendung, Eindeutigkeit, Sicherheit, Schutz, klare und verständliche Regeln. Hilfreich kann zudem sein:
- Interesse an der Person und Mitgefühl zeigen
- Förderung der Interessen (Sprache Musik, Sport, Spiel)
- Begleitung und Befähigung in möglichst vielen Bereichen des Lebens (Wiederermächtigung)
- Vermitteln von fähigen Kulturvermittlern, Dolmetscher
- Verbindung zu den Eltern / Vernetzung, gemeinsame Aktivitäten
- Lernhilfen, Lernpartnerschaften (Patensystem)
Achtung
- In guter Absicht immer wieder gefragt zu werden und über das Erlebte reden zu müssen, kann die Betroffenen retraumatisieren
- Für die Verarbeitung des Erlebten ist deshalb professionelle Hilfe nötig
Quelle: KRISENKOMPASS®-Schule