Auch wenn die Schweiz bisher glücklicherweise von grösseren Gewalttaten in Schulen verschont blieb, können solche nicht ausgeschlossen werden und sind überall möglich. Fachleute sind sich einig, dass es keinen bestimmten Weg gibt, einen weiteren Fall wie den von Erfurt oder Columbine zu vermeiden. Jedoch besteht darin Einigkeit, dass nebst einer umfassenden allgemeinen Gewaltprävention Früherkennung und Frühintervention einen entscheidenden Beitrag zur Vermeidung von Schulattentaten und schwerer Gewalt an Schulen leistet.
Hier erfahren Sie die Grundlagen einer allfälligen Reaktion bzw. Interaktion im Krisenfall und lernen, welcher Beitrag zur Früherkennung und Frühintervention bzw. zur Prävention und damit zur Verhinderung solcher Taten geleistet werden kann.
Begriffe
Mit dem Begriff Amok sind bestimmte Vorstellungen verbunden, wie zum Beispiel, dass Personen, welche Amok laufen, psychisch krank sind und ihre Taten spontan und impulsiv begehen. Bei Schulattentaten hingegen kann festgestellt werden, dass diese von langer Hand geplant, vorbereitet und zielgerichtet durchgeführt werden.
Amok
Impulsive Tötung und / oder Verletzung mehrerer Personen bei einem Tatereignis ohne Abkühlungsperiode, wobei einzelne Tatsequenzen im öffentlichen Raum stattfinden.
School Shooting / Schulattentat
--> geplant und zielgerichtet
Tötung oder Tötungsversuch durch Jugendliche an Schulen, wobei die Tat mit einem zielgerichteten Bezug zu der jeweiligen Schule begangen wird. Der Bezug wird beispielsweise im demonstrativen Tötungsversuch einer oder mehrerer Personen deutlich, sofern sie aufgrund ihrer Funktion als potenzielle Opfer ausgesucht wurden. Die Bezeichnung schwere zielgerichtete Gewalt an Schulen stellt eine geläufige Umschreibung des Begriffes dar.
Drohung
Glaubhafte Absichtserklärung einer unangenehmen Massnahme gegen jemanden, um ihn einzuschüchtern und/oder ihn in seiner zukünftigen Handlungsweise zu beeinflussen.
Bedrohung
Darunter wird vor allem eine bedrohliche Situation verstanden. Oftmals werden nicht direkt Drohungen ausgesprochen; es wird aber eine Situation erzeugt, die als bedrohlich wahrgenommen wird, so z.B. durch Drohgebärden, durch Hinweise auf frühere Gewalttaten, die sich auch hier ereignen könnten, durch Zeichnungen, durch Hinweise, dass Familienmitglieder geschädigt werden könnten.
Verbale und nonverbale Drohungen
Eine Drohung ist grundsätzlich eine Absichtserklärung, jemanden zu schädigen. Sie kann sowohl verbal als auch nonverbal, d.h. schriftlich, zeichnerisch oder mittels einer Gebärde mitgeteilt werden. Weiter kann sie direkt oder indirekt sein, d.h. sie muss dem auserwählten Opfer oder den potenziellen Opfern nicht mitgeteilt werden. Verbale und nonverbale Drohungen sollen durch Lehrpersonen oder andere Personen wenn immer möglich präzise festgehalten werden. Einteilung am Beispiel verbaler Drohungen:
- Direkt: eine klare, ausdrückliche mündliche oder schriftliche Äusserung: «Ich werde dich nach der Schule mit meiner 9 mm-Glock erschiessen.»
- Über Dritte: eine Äusserung mit der Absicht, einer anderen Person Gewalt anzutun: «Ich werde ihn kriegen – du wirst schon sehen.»
- Indirekt: die Gewaltandrohung ist vage und nicht eindeutig ausgesprochen: «Wenn ich wollte, könnte ich jeden an dieser Schule töten.»
- Bedingt: die Drohung impliziert die Abhängigkeit von Bedingungen: «Wenn Sie mir keine gute Note geben, werde ich Sie erschiessen.»
- Versteckt: die Drohung ist vage und interpretationsabhängig: «Es ist durchaus verständlich, dass das in Columbine passiert ist.»
Wissenschaftliche Erkenntnisse
Der Secret Service hat in den USA eine Studie durchgeführt, welche 37 Gewalttaten an Schulen in den Jahren zwischen 1974 und 2002 genauer untersuchte. Aus den Ergebnissen konnten 10 wichtige Erkenntnisse abgeleitet werden.
1. Es gibt kein bestimmtes Profil von Schülern, die gezielte Gewalt an Schulen ausüben
2. Viele Attentäter fühlten sich gemobbt.
3. Die meisten hatten Schwierigkeiten, mit Verlusten oder Misserfolgen umzugehen; viele haben Suizid in Erwägung gezogen bzw. einen Suizidversuch unternommen.
4. Gezielte Gewalt an der Schule ist selten eine plötzliche, impulsive Handlung.
5. Vor dem Attentat wussten andere von der Idee des Attentäters und/oder dem Plan, ein Attentat zu begehen.
6. Die meisten Attentäter bedrohten ihre Opfer nicht direkt vor dem Attentat – es wurden aber im Vorfeld direkte oder indirekte Drohungen ausgesprochen.
7. Vorausgehendes Verhalten verursachte Sorgen bei anderen – die Notwendigkeit für Hilfe war oftmals offensichtlich.
8. In vielen Fällen waren andere Schüler in irgendeiner Form in das Attentat involviert.
9. Die meisten Attentäter hatten Zugang zu Waffen und hatten diese kurz vor der Tat benutzt.
10. Die meisten Attentate wurden durch Leute aus der Schule beendet – nicht durch die Polizei.
Erkenntnisse:
--> Lange Vorbereitungszeit
Schulattentate geschehen nie ohne Vorbereitungsphase. Zwischen den ersten Gedanken, selbst in einer Art gewalttätig zu werden und der Gewalttat an sich vergehen im Minimum mehrere Wochen, meist aber Monate und Jahre.
--> Signale im Vorfeld der Tag
Potenzielle Gewalttäter beschäftigen sich nicht nur im Stillen mit gewalttätigem Vorgehen; sie sprechen darüber, weihen andere in entsprechende Pläne ein oder versuchen, sie gar zum Mitmachen zu bewegen, sprechen Drohungen aus und warnen vielleicht Kollegen (z.B. an einem bestimmten Tag nicht zur Schule zu gehen, weil dann ein Attentat stattfinde).
--> Chance für Früherkennung und Frühintervention
Da Schulattentate über lange Zeit geplante Gewalttaten sind und die Täter darüber sprechen, liegt darin ein enormes Präventionspotenzial im Sinne der Früherkennung und Frühintervention.
Situation im Kanton St.Gallen
Im Kanton St.Gallen rechnet die Kriseninterventionsgruppe (KIG) des Schulpsychologischen Dienstes pro Jahr mit 4 bis 5 Bedrohungslagen, die zu einem Schulattentat führen könnten. Bis jetzt ist es nie dazu gekommen. Die Jugendlichen wurden rechtzeitig entdeckt oder sie verhielten sich zwar problematisch, wollten aber trotzdem kein Schulattentat begehen. Natürlich weiss man im Nachhinein nie wirklich, was passiert wäre, wenn...
Vorbereitungshandlungen sind vielfach ein Hilferuf
Gehäuft sind dabei Jugendliche aufgefallen, die sich innerhalb ihrer Familie in einer Verlierer-Situation befanden. Alle Familienmitglieder sind relativ erfolgreich bis auf den einen Jugendlichen, der als schwarzes Schaf gilt und vielfach eine Sonderposition einnimmt, die auch etwas wie Originalität an sich hat. Manchmal aber ist diese Position für Jugendliche kaum zu ertragen, sodass sie Drohungen aussprechen bzw. nach Möglichkeiten suchen, um ihrer Misere ein Ende zu setzen. Beobachtete Vorbereitungshandlungen sind deshalb immer auch unter dem Aspekt eines Hilferufs zu sehen.
Hilfestellung schafft neue Perspektiven
Bei allen Jugendlichen konnte festgestellt werden, dass sie sich subjektiv in einer ausweglosen Situation befanden, aus der sie nur mit Hilfe von aussen herausfanden. Mit entsprechenden Hilfestellungen können also nicht nur Schulattentate verhindert werden, sondern es wird damit gleichzeitig möglich, Jugendlichen in einer für sie sehr schwierigen Situation neue Perspektiven zu eröffnen und ihnen damit aus der Krise zu helfen.