Die Suche nach der eigenen Identität in der Adoleszenz begünstigt das Entstehen einer extremistischen Einstellung, denn sie ist. eine Phase der Sinn- und Orientierungssuche, aber auch der Abgrenzung und Provokation. Risikoreiches, extremes Verhalten gehört deshalb fest mit dazu. Auch die Orientierung an den Gleichaltrigen, die Suche nach Zugehörigkeit und Anerkennung in Peergroups und Gemeinschaften sind ein fester Bestandteil der Jugendphase. Für das Ausleben des Bedürfnisses nach Grenzüberschreitungen, Autonomie und das Austesten neuer Ausdrucksformen, Haltungen und Gemeinschaftsformen braucht es Experimentier- und Freiräume, wo solche Tendenzen nicht gleich skandalisiert und sanktioniert werden.
Bezüglich Gender stellt sich die Frage, ob nur junge Männer gefährdet sind für Extremismus. Diese Frage muss verneint werden, auch wenn bei Rechtsextremismus, dschihadistischer Radikalisierung sowie im Speziellen bei Hooliganismus die männlichen Anhänger im Vordergrund stehen. Vor allem wenn es um physische Gewalt geht, dann ist dies für Frauen wenig attraktiv. Doch spielen Mädchen und Frauen in verschiedenen extremistischen Bewegungen eine wichtige Rolle, welche in der Öffentlichkeit meist nicht oder nur beschränkt wahrgenommen wird (Köttig 2004). Sie leisten dabei nicht nur Unterstützungsarbeit im Hintergrund, ihre Beteiligungsformen reichen von Anstiftung zu Gewaltanwendung bis hin zu indirekter Gewaltausübung durch unterstützende Tatbeteiligung. Meist sind sie für extremistische Organisationen zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur wichtig, indem sie Szenetreffpunkte betreiben, Räume für Veranstaltungen mieten oder im Netz aktiv sind (Elverich 2007). Darüber hinaus nehmen sie insbesondere bei der Anwerbung von weiblichen Anhängerinnen eine wichtige Rolle ein.
Für die Entwicklung von Rechtsextremismus, gibt es spezifische Einfluss- und Risikofaktoren.
In den 1990er-Jahren wurde im deutschsprachigen Raum viel über die Ursachen von Rechtsextremismus geforscht, weshalb Risikofaktoren bestimmt und auf dieser Grundlage Präventions- und Interventionsstrategien entwickelt werden konnten. Aus diesen Studien geht hervor, dass rechtsextreme Haltungen bei Jugendlichen aus konservativ-ländlichen Gegenden mit geringer Ausländerdichte häufiger auftreten als bei solchen aus städtischen Wohngebieten mit stärkerer Durchmischung der Bevölkerung. Folglich sind vermehrte Kontaktflächen mit Zugewanderten fremdenfeindlichen Einstellungen eher abträglich (Eser Davolio & Drilling 2008; Zick 1997). Auch zeigen sich Genderunterschiede: Mädchen sind empathischer gegenüber Ausländerinnen und Ausländern sowie Flüchtlingen und dadurch auch weniger fremdenfeindlich eingestellt als ihre männlichen Gleichaltrigen (Fend 1994).
Oft wird angenommen, dass rechtsextreme Haltungen durch Benachteiligungen, Arbeitslosigkeit oder Konkurrenz um knappe Güter (Wohnungen etc.) entstehen würden. Ein solcher Zusammenhang konnte jedoch nicht nachgewiesen werden, denn vielmehr führen die subjektiv wahrgenommenen Benachteiligungen anderer Inländer durch vermehrte Zuwanderung zu fremdenfeindlichen Haltungen. Die Überzeugung, dass die Zugewanderten nun von dem selbsterarbeiteten Wohlstand der Inländer profitieren sowie eine vorrangige Orientierung an Geld, Aufstieg und Status tragen ebenfalls zur ausgrenzenden Haltung gegenüber Ausländern und Flüchtlingen bei (Heitmeyer 1992).
Gleichzeitig sind Jugendliche mit tieferem Bildungsniveau etwas häufiger von Rechtsextremismus betroffen, da sie sich sowohl gegenüber Abwertungsäusserungen, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus als auch gegenüber Gewaltbereitschaft weniger abgrenzen. Wenn junge Menschen derartige Haltungen manifest vertreten und sich gleichgesinnten Gruppierungen anschliessen, in denen sie sich gegenseitig bestärken, kommt es nicht selten zu fremdenfeindlichen Drohungen und Gewaltakten gegenüber Andersdenkenden und Minderheiten. Studien zum Persönlichkeitsprofil und familiären Hintergrund solcher rechtsextremer Gewalttäter zeigen, dass sie überdurchschnittlich häufig in nicht vollständigen Familien aufgewachsen sind und wenig Zuwendung durch ihre Eltern erfahren haben (Rieker 2007) sowie zum Teil auch Alkoholmissbrauch und physische Gewalt erlebt haben (Wahl 2004).
Entwicklung von Linksextremismus
Für die Entwicklung von Linksextremismus gibt es spezifische Einfluss- und Risikofaktoren.
Zu den Ursachen von Linksextremismus gibt es bislang relativ wenig Forschung. Zwar sind es auch hier meist Identitätssuche und Politisierungsprozesse, welche zusammen mit der Abgrenzung vom Elternhaus zu linksaffinen Lebensentwürfen beitragen können. Solche Politisierungsprozesse laufen meist über wahrgenommene soziale Ungleichheit, Kritik am Wirtschaftssystem oder über Umweltschutzthemen. Wenn junge Menschen diesen Problemdruck als massiv, bedrohlich und unmittelbar wahrnehmen, kann ihr Engagement bis hin zu radikalen Einstellungen und militanter, gewaltbereiter Mobilisierung reichen. Dies bedeutet, dass sie (fast) alle Mittel für legitim halten, um gegen die aus ihrer Warte verantwortlichen «Mächte» anzukämpfen. Ein gewaltbereites, aggressives Auftreten entsteht meist dann, wenn sie bei Protestaktionen Gewalterfahrungen machen, insbesondere Ohnmachtserfahrungen in der Konfrontation mit der Polizei ebenso wie bestärkende Gruppenerfahrungen (Hildebrand et al. 2015).
Entwicklung von dschihadistisch motiviertem Extremismus
Für die Entwicklung von dschihadistisch motiviertem Extremismus gibt es spezifische Einfluss- und Risikofaktoren.
Was den Risikofaktor religiöse Ausrichtung und Konversion für die Ausbildung dieser Extremismusform betrifft, so zeigt sich bei den Dschihadreisenden aus der Schweiz (Eser Davolio et al. 2015) mit einer Ausnahme, dass sie aus nicht (streng)religiösen Elternhäusern stammten. Auch haben sie vor ihrer Radikalisierung entweder zum Islam konvertiert oder waren bereits muslimisch und verfolgten im Zuge einer Neuorientierung eine fundamentalistischere Auslegung des Islams. Das heisst, dass der muslimische Glaube und die Zugehörigkeit zu einer fundamentalistisch ausgerichteten Gemeinschaft an diesem Wendepunkt plötzlich an Bedeutung für sie gewinnen und zu einer wichtigen Orientierungs- und Sinnquelle werden. Da ihre Familien den Islam meist nur als Tradition leben, geraten sie oftmals in Konflikt mit ihren Eltern und ihrem Umfeld. Indem sie ihren Eltern vorwerfen, nicht den «richtigen» Glaubensweg zu befolgen und lediglich einen «Eurofake-Islam» zu leben, entwerten sie diese und demonstrieren mit ihrer neuen, fundamentalistischen Lebensweise ihre moralische Überlegenheit.
Die Konversion zu einem fundamentalistisch interpretierten Islam stellt bezüglich Werten, Lebensweise und politischer Ansichten im Vergleich zu anderen Religionen (z.B. Buddhismus) die grösstmögliche Distanzierung von der westlichen Gesellschaft dar und kann auch als Provokation gegenüber dem Elternhaus gedeutet werden. Bei jeder Konversion spielen Faktoren wie Orientierung und Geborgenheit in einer Glaubensgemeinschaft, das Wir-Gefühl und die Zugehörigkeit eine wichtige Rolle. Folgende Faktoren und Auswirkungen auf das Familiengefüge lassen sich dabei aus machen:
- Die Eltern sind meist nicht religiös und haben wenig Wissen über die eigene Religion, was ihnen von den Jugendlichen vorgehalten wird.
- Es entstehen Reibungsflächen in der Familie, wenn die neue Identität sichtbar wird und zum Bruch mit dem kulturellen Erbe oder mit familiären Gewohnheiten führt (Csf 2016).
- Schrittweiser Rückzug der Konvertitinnen und Konvertiten vom «normalen» westlichen Leben und ihre Identität wird rigide (z.B. durch Vollverschleierung).
- Jede Konfrontation mit der Familie oder Andersdenkenden verstärkt das Gefühl auf dem rechten Weg zu sein und die richtige Gruppe gewählt zu haben – im Gegensatz zu den Eltern, Bezugspersonen und der Gesellschaft, welche sie abzulehnen scheinen.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Extremismusformen
Eine wichtige Gemeinsamkeit aller Formen von Extremismus besteht in der Demokratiefeindlichkeit, da Demokratie immer Kompromisse und Mässigung mit sich bringt.Eine wichtige Gemeinsamkeit aller Formen von Extremismus besteht in der Demokratiefeindlichkeit, da Demokratie immer Kompromisse und Mässigung mit sich bringt.
Neben der Demokratiefeindlichkeit wird den öffentlichen Medien jegliche Glaubwürdigkeit abgesprochen, da ihnen zugeschrieben wird, im Dienst «des Gegners» zu stehen. Darüber hinaus werden bei allen extremistischen Richtungen kritische Einwände gerne als Diffamierung zurückgewiesen und Kritiker und Austretende werden bekämpft und eingeschüchtert. Dasselbe gilt für den Ausstieg, wodurch Austretende zu Abtrünnigen werden und Druck, Ausgrenzung oder Drohungen und Gewalt erleben.
Die Zugehörigkeit zu extremistischen Gruppierungen ist mit der Schaffung alternativer Sinn- und Glaubenswelten verbunden, was sowohl zu einem Realitätsverlust als auch zu einer undifferenzierten Wahrnehmung andersgelagerter Meinungen führen kann (Waldmann 2011).